Von Impfungen und Wohlstandsmaden

Meine Omma wurde 1911, irgendwo in der schlesischen Provinz geboren. Auf’n Dorf. 300 Einwohner und ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Den hatte man damals auch noch, den Kaiser Willem, das ist der mit’n Bart, Ihr wisst schon.

Als meine Omma in die Schule kam, lag der Erste Weltkrieg in den letzten Zügen. Für meine Omma war es normal, dass immer wieder Freunde einfach nicht mehr in die Schule kamen. Sie waren gestorben. Nicht durch den Krieg, sondern durch Krankheiten. An Masern zum Beispiel oder an Tetanus. Auch war es für sie normal, dass einige ihrer Klassenkameraden durch die Poliomyelitis gelähmt waren oder schwere Deformationen an Armen und Beinen davon getragen hatten. Auch Kinder, die nach einer Mumpserkrankung taub waren, waren für sie normal. Damit lebte man damals und wenn man halt Röteln, Windpocken oder Diphterie bekam, dann war das halt so, da konnte man nichts dagegen machen. Und wenn das Kind starb, naja, dann war das halt so. Man konnte ja nichts dagegen machen. Wenigstens konnte man etwas gegen die Pocken unternehmen, da gab es Impfungen dagegen und tatsächlich gab es kaum noch Todesfälle durch diese schlimme Krankheit.

Sie erlebte, dass genauso viele ihrer Altersgenossen durch Krankheiten starben wie durch Krieg und den dadurch verursachten Mangel. Dass sie selbst überlebt hatte, war einfach Glück.

Heute gibt es gegen diese Krankheiten Impfstoffe. Kein Kind braucht mehr zu sterben, kein Kind braucht mehr Angst zu haben, gelähmt zu werden. Aber noch heute sterben beispielsweise Kinder in Deutschland an den Masern. Warum? Weil ihre Eltern aus irgendwelchen abstrusen Gründen heraus Impfungen ablehnen. Weil ihre Eltern aus irgendwelchen abstrusen Gründen heraus irgendwelchen Scharlatanen mehr glauben, als den Erfahrungswerten ganzer Ärztegenerationen. Ihrer Meinung nach sind beispielsweise Autismus, Homosexualität oder Masturbation „Spätfolgen“ von Impfungen. Jeder kleine Pickel am Hintern des Nachbarkindes nach einer Impfung wird zu einem „Impfschaden“ hochstilisiert.

Warum ist das so? Weil sie die Erfahrungen meiner Omma glücklicherweise nie machen mussten. Weil das, was für meine Omma Realität war, für diese Leute weit, weit entfernt ist und nur eine „Horrorstory“, mit der die böse Pharmamafia Angst machen will. Meiner Omma zufolge geht es Impfkritikern einfach zu gut und nur deswegen können sie sich auch mit solchen Kokolores beschäftigen. Solche Leute nannte meine Omma „Wohlstandsmaden“ Und damit hatte sie ja auch recht.

Nach dem Krieg und ihrer Flucht aus Schlesien siedelte sich meine Omma hier bei uns in der Provinz an. Sie sorgte für ihre beiden Kinder und als in den 1950er und 1960er die ersten Impfprogramme anliefen, waren sie und ihre Kinder jeweils die ersten in der Schlange. Mein Bruder und ich wurden selbstverständlich auch komplett durchgeimpft. Und wenn wir Angst hatten vor der Nadel, sagte sie nur „Sterben ist schlimmer als pieksen!“ Und damit hatte sie ja schon wieder recht. Danke Omma!

 

Beitragsbild: Von Cory Doctorow – Flickr: Maggots, London Zoo, London.JPG, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17973437

4 Gedanken zu “Von Impfungen und Wohlstandsmaden

  1. Ich danke deiner, meiner und allen anderen Ommas, die uns dieses Wissen mitgegeben und die scheußlichen Erfahrungen von Behinderungen oder dem Tod in jungen Jahren erspart haben. Meine Mutter ist gelernte Kinderkrankenschwester und auch sie hat mir und uns mitgegeben. das Impfen wichtig ist. Lebenswichtig. Und nach dem Pieks gabs Gummibärchen. Oder ein Eis.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.